English abstract: SCHRITTWEISE

Walking is an everyday activity. It leads beyond the individual and beyond cultures. Walking, we establish relationships: between here and there, towards and away from, next to, behind, along with ... We walk in different ways and for the most diverse purposes. Walking creates a basis from which we can meet and collectively experience and form the world.

SCHRITTWEISE is a participatory performance in and with the city, allowing a choreography to emerge from small experiments with movement and perception, conducted while walking.

SCHRITTWEISE is a game that is played both individually and in a group.

Step by step, walking may become strange ...

Participants are provided with MP3 players to follow instructions for playing via a pre-produced audio guide.

The project has come to a first stop. Research phase, development of the score with various groups lead to a choreographic experience of urban space under the direction of Katja Münker. The project can be retraced, looked up or retraced. The extensive website offers documentary material of various kinds, written, photographic and video, as well as suggestions for trying it out yourself.

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SCHRITTWEISE (German)

Im Henry-Ford-Bau der Freien Universität, an einem Januarnachmittag. Studierende kommen an, eilen in die Hörsäle, plaudern, stehen herum, müssen weiter. Einige bleiben stehen und schauen dem rätselhaften Schauspiel zu, das sich ihnen bietet. 

Zwölf oder dreizehn Personen bewegen sich auffällig unalltäglich durch das hohe, 75 Meter lange gläserne Foyer: die Beine abwechselnd hoch in die Luft gestreckt, die Arme ausgelassen schlenkernd. Manche machen unerwartete Tänzelbewegungen, andere laufen seitwärts im Scherenschritt oder mit gebeugten Knien. 

Unbeteiligte mag die Choreografie an Monty Pythons Ministry of Silly Walks erinnern. Die Auffälligkeit, soviel ist klar, besteht im Abweichen vom normalen Gang. »Der Regelbruch fühlt sich nicht direkt verboten an, aber auch nicht direkt erlaubt«, wird eine Teilnehmerin der anderthalbstündigen Aktion später sagen. 

Ungewöhnliche Gangarten, verdächtige Audiowalker

Die Aktion ist ein Audiowalk mit dem Namen SCHRITTWEISE, der von der Performance-Künstlerin Katja Münker ursprünglich für den Berliner Lustgarten konzipiert wurde. Das Projekt führt sie gemeinsam mit der Videographin Andrea Keiz durch. Die Teilnehmenden sind dieses Mal Masterstudierende der Tanzwissenschaft, die ein Kolloquium der Tanzprofessorin Gabriele Brandstetter besuchen, und Beteiligte des Sonderforschungsbereich Intervenierende Künste. 

Katja Münker, die sich mit ihrer experimentellen Ästhetik im Spannungsfeld zwischen Performance Art, Spaziergang und Spiel bewegt, hat das Gehen zu ihrem Forschungsobjekt gemacht. Das primäre Arbeits- und Aktionsfeld der Künstlerin ist der öffentliche Raum, das alltägliche Leben auf den Straßen und Plätzen. SCHRITTWEISE findet daher nicht in einem institutionellen Kunstraum statt. 

Anfangs wurde allen Teilnehmer*innen vor dem Henry-Ford-Bau ein MP3-Player überreicht. Über Kopfhörer erhalten sie Anweisungen, die sie durch den Bau navigieren, ihnen Hinweise geben und sie zu ungewöhnlichen Gesten anstifteten. So lässt der Audiowalk die Teilnehmer*innen am eigenen Körper erproben, dass es andere Gesten gibt, als die, die sie alltäglich in öffentlichen Gebäuden wahrnehmen oder selbst ausführen. 

»Gehe so, dass angenehme Wackel- und Schlenkerbewegungen in deinem Skelett entstehen«, sagt Katja Münkers Stimme im Kopfhörer. Dann ermuntert sie dazu, mit entweder zu schnellen oder viel zu langsamen Schritten den gewohnten Rhythmus des Ortes durcheinander zu bringen, Bewegungen anderer zu imitieren oder eine Ecke aufzusuchen, um sich vor Blicken eine Weile zu verstecken. 

Durch die Aktion soll untersucht werden, wie man sich öffentliche Orte mit experimentellen Choreografien aneignen kann. Über die synchron ablaufende Tonspur der MP3-Player schafft sie ein verbindendes Element unter den Teilnehmer*innen, die als zerstreutes Kollektiv individuell auf Handlungsangebote eingehen können. So werden Funktionsweisen öffentlicher Orte ausgelotet und die Grenzen des Gewohnten »ein bisschen gedehnt«, sagt Katja Münker.

Die Kunst, Schritte zu setzen

Die Erkundung des Gehens dringt zu den motorischen Grundbausteinen der Tanzkunst vor; jede Aufführung basiert auf Schritten, auf Bewegungen im Raum. Ursprünglich ist Gehen ein funktionaler Akt: Er dient der Fortbewegung von A nach B. Das Herumspazieren, wie Münkers Audiowalk es vorschlägt, ist von einer klaren Funktionalisierung losgelöst. Ein solches Kunst-Gehen führt nirgendwohin – es hat das Ziel, eine Tätigkeit bewusst zu machen, die wir meist für selbstverständlich halten.

»Die Teilnehmer*innen können den eigenen Körper bewusst als gestalterisches Mittel und ihre Wahrnehmung als Erkenntnismöglichkeit begreifen. Und sie reflektieren das Verhältnis zwischen alltäglicher Handlung und choreografierter Handlung in der Gruppe«, erläutert Gabriele Brandstetter. 

Auf diese Weise sei es möglich, die schmale Differenz zwischen Tänzen, die genaue Schrittmuster vorschreiben, und Formen von Choreografien, die mit individuellen, alltäglichen Bewegungen (wie dem Gehen) arbeiten, im Selbstversuch zu erkunden. Damit werde zugleich spielerisch wie auf intensive Weise die Wahrnehmung der eigenen Bewegung im geteilten öffentlichen Raum spürbar. 

Bewusstsein für das Kulissenhafte der Stadt

Halbzeit der Aktion: Die Stimme im Kopfhörer schlägt Dreh- und Richtungskombinationen vor, die sie mit Positionen auf einem gedachten Zifferblatt beschreibt: 12 Uhr bedeutet gerade voraus gehen, 3 Uhr nach rechts und so weiter. »Vielleicht entsteht ein Tanz?«, fragt die Stimme und überlässt es den Teilnehmer*innen, einen eigenen Ausdruck zu finden. 

Obwohl sie sich zerstreut und in unterschiedlichen Ecken des Foyers befinden, entsteht durch die Choreografie eine Bühne. Passanten schauen sich um, bleiben stehen oder setzen ihren Gang fort, während sie etwas irritiert zu den Tanzenden und Schlenkernden blicken. Einen kurzen Moment lang werden sie zu Zuschauern, zu Zeugen eines sich rätselhaft und vermeintlich ziellos bewegendenden Kollektivs. 

»Ich habe gemerkt, wie hinter mir ein Student seinen Hals reckte, und hab mich gefragt: Wird er den Wachschutz darauf aufmerksam machen, was ich für einer bin?«, sagte ein Teilnehmer im anschließenden Feedback-Gespräch. Verdächtiger Audiowalker! 

Professorin Brandstetter fand lobende Worte auch für die Umgebung: »Ich kannte den Henry-Ford-Bau bisher nur als nüchternen Ort mit Gebrauchswert. Zum ersten Mal habe ich auch die Schönheit der Architektur wahrgenommen.«

Eine Teilnehmerin sprach von Gefühlen der Unbefugtheit, der Unsicherheit, wie sie mit den Reaktionen der unbeteiligten Zuschauer umgehen sollte – und dass sie es dennoch als Geschenk empfunden habe, durch den Audiowalk eine ganz neue, konkretere Beziehung zum Uni-Gebäude und den dort ein- und ausgehenden Menschen herstellen zu können. 

Text und Foto von Sören Maahs